Sirtuine und Longevity: Ein Forschungsfeld im Wandel

Sirtuine sind ein häufig genannter Begriff im Longevity-Kontext. Dieser Text erklärt, woher das Konzept stammt, was wir heute darüber wissen und warum die anfängliche Begeisterung einer deutlich vorsichtigeren Einschätzung gewichen ist.
Wenn du dich für das Thema Longevity interessierst, bist du sicher schon auf den Begriff Sirtuine gestoßen. Kaum ein anderes Wort hat in der Welt der Longevity-Forschung so viel Hoffnung geweckt, für Schlagzeilen gesorgt und große Investitionen ausgelöst. Aber was steckt eigentlich dahinter? Warum hat ein Gen aus Hefe die internationale Forschung in Aufruhr versetzt? Und was ist seitdem passiert? Die Geschichte der Sirtuine zeigt, wie spannend, aber auch herausfordernd die Suche nach einem gesunden, langen Leben wirklich ist. Es geht um wissenschaftliche Neugier, überhöhte Erwartungen und wertvolle Erkenntnisse über die Komplexität des Alterns.
Stille Ursprünge: Was Sirtuine eigentlich sind
Als der MIT-Professor Leonard Guarente Anfang der 1990er Jahre begann, das Altern mit Hefezellen zu erforschen, stieß er zunächst auf viel Skepsis. Vielen erschien die Vorstellung absurd, menschliches Altern mit einem Einzeller-Modell untersuchen zu wollen. Doch gemeinsam mit seinen Studenten Brian Kennedy und Nicanor Austriaco wagte er den Schritt. Die drei entdeckten, dass ein Gen namens Sir2 die Lebensdauer von Hefezellen beeinflusst. Mehr Sir2 verlängerte das Leben der Zellen, weniger Sir2 verkürzte es. Damit zeigten sie erstmals, dass einzelne Gene direkt die Zellalterung beeinflussen können.
Der Name Sirtuine stammt vom „Silent Information Regulator 2“, kurz Sir2. Zunächst war es dafür bekannt, bestimmte DNA-Abschnitte ruhigzustellen, insbesondere an den Enden der Chromosomen, den Telomeren. Doch schnell wurde klar, dass Sir2 noch mehr kann. Es beeinflusst, wie oft sich Hefezellen teilen können, bevor sie ihre Aktivität einstellen. Diese Entdeckung sorgte für große Aufmerksamkeit. Könnte ein Gen, das den Alterungsprozess bei Hefe verlangsamt, auch bei höheren Organismen eine Rolle spielen?
Tatsächlich fanden Forscher entsprechende Gene auch in Würmern, Fliegen und schließlich im Menschen. Heute kennen wir sieben Sirtuine, benannt als SIRT1 bis SIRT7. Sie regulieren zentrale Prozesse in deinen Zellen, zum Beispiel den Energiestoffwechsel, die DNA-Reparatur und den Umgang mit Stress. Besonders spannend ist ihre Abhängigkeit vom Molekül NAD, das mit zunehmendem Alter abnimmt. Diese Verbindung machte Sirtuine zum Forschungsschwerpunkt bei Kalorienrestriktion, einer Maßnahme, die in vielen Spezies die Lebensspanne verlängert.
Ein Hype entsteht: Rotwein, Hoffnung und Milliarden
Anfang der 2000er-Jahre gerieten Sirtuine plötzlich ins Zentrum der Longevity-Forschung. Die Wissenschaftler Leonard Guarente und David Sinclair untersuchten sie bei Säugetieren und entdeckten, dass SIRT1 durch Resveratrol aktiviert werden kann. Dieser Stoff kommt unter anderem in Rotwein vor. Die Medien griffen das Thema begeistert auf. Ein Inhaltsstoff aus Wein, der die Vorteile der Kalorienrestriktion imitiert und den Alterungsprozess verlangsamt? Das klang wie ein kleines Wunder.
⇥ Weiterlesen: Mythos Resveratrol
Doch die Realität sah dann doch anders aus.
Sinclair gründete daraufhin das Unternehmen Sirtris Pharmaceuticals, das Wirkstoffe zur Aktivierung von Sirtuinen entwickeln sollte. Im Jahr 2008 kaufte GlaxoSmithKline das Unternehmen für 720 Millionen Dollar. Doch schon bald wurden kritische Stimmen laut. Manche Studien zeigten, dass die Effekte von Resveratrol auf experimentellen Fehlern beruhten. Andere konnten die lebensverlängernden Wirkungen bei Tieren nicht bestätigen. Schließlich stellte GlaxoSmithKline das Projekt ein. Aus der anfänglichen Euphorie wurde Ernüchterung.
Was wir heute über Sirtuine wissen
Auch wenn der große Hype vorbei ist, bleibt das Interesse an Sirtuinen bestehen. Heute wissen wir, dass sie als sogenannte Deacetylasen wirken. Sie verändern andere Proteine und steuern dadurch, welche Gene in der Zelle aktiv sind. Manche Sirtuine, zum Beispiel SIRT6, sind entscheidend für die Stabilität des Stoffwechsels und die Reparatur von DNA-Schäden. In Tierversuchen zeigte sich, dass Mäuse ohne SIRT6 früh sterben. Wird das Protein hingegen verstärkt produziert, könnten die Tiere länger leben.
"Korrekt. Die Wahrheit über Resveratrol und Sirtuine ist seit 2005 für jeden, der es sehen wollte, klar. Es ist wirklich nicht sehr verwirrend."
Matt Kaeberlein, Ph.D. (16. Feb. 2022)
Trotzdem haben sich viele der früheren Hoffnungen relativiert. Die Vorstellung, dass Sirtuine der Hauptmechanismus hinter der lebensverlängernden Wirkung der Kalorienrestriktion sind, gilt heute als überholt. Einige Studien zeigen, dass eine verlängerte Lebensspanne auch ohne Sirtuine möglich ist. Daraus ergibt sich ein wichtiges Fazit: Nicht ein einzelner Mechanismus, sondern das Zusammenspiel mehrerer Prozesse beeinflusst das Altern.
⇥ Weiterlesen: Der präklinische Longevity-Goldstandard: Kalorienrestriktion
Die Forschung richtet ihren Blick neu aus
Heute stehen Sirtuine nicht mehr im Zentrum der Longevity-Forschung. Der Fokus hat sich verschoben, weil andere Signalwege konsistentere und besser reproduzierbare Ergebnisse liefern. Besonders der TOR-Signalweg (Target of Rapamycin) gilt als vielversprechend. TOR ist ein Sensor für Nährstoffe, der die Zellreaktion auf das Nahrungsangebot steuert. Ein entscheidender Durchbruch gelang mit dem Medikament Rapamycin, das TOR hemmt. In vielen Tierstudien verlängerte es die Lebensdauer deutlich und senkte das Risiko für altersbedingte Krankheiten. Im Gegensatz zu Sirtuinen konnten diese Effekte zuverlässig und in unterschiedlichen Spezies nachgewiesen werden. Auch Kalorienrestriktion wirkt nicht über einen einzigen Weg, sondern über ein komplexes Netzwerk an Signalwegen. Genau dieses Netzwerk wird heute intensiv erforscht.
Vom Gen zum System: Neue Perspektiven auf Longevity
Die Longevity-Forschung ist erwachsener geworden. Selbst Wissenschaftler, die einst an vorderster Front der Sirtuin-Forschung standen, wie Brian Kennedy oder Matt Kaeberlein, richten ihre Aufmerksamkeit heute auf robustere Mechanismen wie den TOR-Signalweg. Dieser erlaubt nicht nur ein tieferes Verständnis der biologischen Abläufe, sondern liefert auch stabilere Ergebnisse.
Dieser Wandel steht sinnbildlich für einen größeren Trend: Weg vom Vertrauen in einzelne „Wundergene“ und hin zu einer systemischen Sichtweise. Heute interessiert sich die Forschung dafür, wie ganze Netzwerke aus Genen, Proteinen und Stoffwechselwegen zusammenwirken. Nur wenn wir diese Dynamik verstehen, können wir gezielt in den Alterungsprozess eingreifen. Sirtuine haben wichtige Impulse gegeben, aber die vielversprechendsten Wege liegen inzwischen an anderer Stelle.
Was du aus der Geschichte der Sirtuine mitnehmen kannst
Die Entwicklung rund um die Sirtuine ist nicht einfach eine Geschichte über Erfolg oder Misserfolg. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie wissenschaftlicher Fortschritt funktioniert. Aus einem einzelnen Hefegen wurde eine weltweite Forschungswelle, die Investoren begeisterte und neue Denkweisen anstieß. Am Ende blieb nicht die große Durchbruchstechnologie, aber eine klare Erkenntnis: Wissenschaft braucht Geduld, kritische Prüfung und die Bereitschaft, sich vom Datenmaterial leiten zu lassen.
Auch wenn Sirtuine heute keine Hauptrolle mehr spielen, gehören sie weiterhin zum großen Bild der Longevity. Sie könnten künftig eine ergänzende Rolle spielen, wenn es darum geht, unterschiedliche Mechanismen des Alterns gezielt zu beeinflussen.
Weiterführende Informationen
- The David Sinclair $720,000,000 Train Wreck! by Dr Brad Stanfield (10.03.2024)
- Aging Research—Where Do We Stand and Where Are We Going? - ScienceDirect
- Questions hang over red-wine chemical | Nature
- Matt Kaeberlein auf X: „@CharlesMBrenner @philo00 @elhuronrafa (16. Feb. 2022)
- Resveratrol, Fasting, & Rapamycin | Matt Kaeberlein - Dr Brad Stanfield
- Substrate-specific Activation of Sirtuins by Resveratrol * Kaeberlein, Matt et al. Journal of Biological Chemistry, Volume 280, Issue 17, 17038 - 17045
- The SIR2/3/4 complex and SIR2 alone promote longevity in Saccharomyces cerevisiae by two different mechanisms
- Rogina B, Helfand SL. Sir2 mediates longevity in the fly through a pathway related to calorie restriction. Proc Natl Acad Sci U S A. 2004 Nov 9;101(45):15998-6003. doi: 10.1073/pnas.0404184101. Epub 2004 Nov 1. PMID: 15520384; PMCID: PMC528752.
- Tissenbaum HA, Guarente L. Increased dosage of a sir-2 gene extends lifespan in Caenorhabditis elegans. Nature. 2001 Mar 8;410(6825):227-30. doi: 10.1038/35065638. PMID: 11242085.
- Getting The Benefits Of Red Wine From A Pill? Not Likely. By John LaMattina, Mar 19, 2013 (Forbes)
- Matt Kaeberlein reflects on "David Sinclair’s Longevity Lie"